Anlass dieses Blogeintrags ist zunächst der Hinweis auf die morgen (Di 15.12.2009 ab 10 Uhr) anstehende wichtige mündliche Verhandlung zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) vor dem BuVerfG.
Zwar hat der selbsterklärte Parlaments- und Gerichts-Sender "Phoenix-live-vor-Ort" es noch nicht gemerkt und berichtet Dienstag-Vormittag lieber vom UN-Klimagipfel in Kopenhagen. Die angeklagte Bundesregierung dagegen verkennt keineswegs die Bedeutung dieser Verhandlung und bietet in Karlsruhe fast eine Kompanie an mehr oder weniger integren und "unabhängigen" Fachleuten auf. Und auch die Gegenseite der von der staatlichen Schnüffelei existenziell betroffenen Bürger wird natürlich enorm zahlreich vertreten sein. Dabei geht es sogar noch um mehr als "nur" um die letzten Reste unserer Privatsphäre. Es geht um nicht weniger als die Frage der Gerichtshierarchie EuGH versus BuVerfG. Und damit eben auch um die Frage verbleibender staatlicher Rest-Souveränität der heutigen EUlitären Bundesrepublik.
In "Nicht im Namen des Volkes" hatte ich zuletzt im Juli 2009 auf diese staats- und europarechtlich so bedeutende Verhandlung hingewiesen. Zuletzt zählte das BuVerfG einen Rekord von über 35.000 Beschwerdeführern gegen die totalitäre Vorratsdatenspeicherung!
"Vertragshoheit und Gerichtshierarchie: Das BuVerfG reklamiert die Vertragshoheit und die 'oberste Integrationsverantwortung' für sich - und sieht sich hierarchisch über dem EuGH.
Realität: Das widerspricht direkt dem Lissabon-Vertrag, der aber zugleich passieren darf. Keine Chance auf Verwirklichung, denn das würden sofort auch 26 andere Länder fordern und Lissabon wäre damit de facto tot. Das BuVerfG hat nicht einmal einen völkerrechtlichen Vorbehalt für seine Interpretation des Lissabon-Vertrags gemacht! Die EU und der EuGH sind somit weiterhin frei, ihre Interpretation durchzusetzen. Das BuVerfG hat noch nie ein Urteil des EuGH aufgehoben (noch dies je versucht). Und der EuGH hat noch nie einer EU-Richtlinie widersprochen und diese somit aufgehoben.
Die bis heute mangelhafte Existenz-Legitimation des EuGH wird (obwohl expliziter Inhalt der Schachtschneider-Klageschrift) im BuVerfG-Urteil nicht einmal adressiert. EuGH-Entscheidungen hatten in den vergangenen Jahrzehnten immer Vorrang vor nationaler Rechtssprechung. Aktuell ist mit der Vorratsdatenspeicherung wieder eine wichtige EU-Richtlinie auf dem Prüfstand des BuVerfG: Man darf gespannt sein, ob das BuVerfG nach seiner Jahrzehnte-alten 'Nullhistorie' einmal den Mut hat, ein klar GG-widriges EU-Gesetz zu kassieren. Dieser Lackmustest des neuen BuVerfG-Anspruchs steht schon im Herbst an... "
Es gab seit Juli 2009 leider nur sehr wenige Verteidiger des echten Datenschutzes in den Mainstream-Medien oder gar im Parlament, obwohl die Meinung der Bürger zu den VDS-Schnüffelgesetzen völlig eindeutig ist. Dennoch gibt es einige herausragende Gegenbeispiele in den Medien. So z.B. Bettina Winsemann von Heise, die schon seit 2006 zur VDS immer wieder Klartext gesprochen hat. Aber auch der hier im Blog erst jüngst kritisierte Heribert Prantl von der SZ, der bei DIESEM VDS-Thema im Gegensatz zur direkten Demokratie bislang noch nicht eingeknickt ist. So ist zB sein heutiger Artikel in der SZ zur morgigen Verhandlung in Karlsruhe unbedingt lesenswert und weitgehend zustimmungsfähig.
Ich zitiere nachfolgend einiges aus diesem SZ-Artikel und bitte die Leser lediglich darum, dabei nicht nur zu nicken, sondern sich zu fragen, wie Prantl angesichts all seiner richtigen -aber gleichzeitig zum Himmel schreienden- Erkenntnisse denn so ruhig schreiben kann, ohne wenigstens -wie es fast zwingend wäre- abschließend auf Art. 20(4) GG zu verweisen, in dem die Verfassungsväter (zugegebenermaßen reichlich theoretisch und naiv) das Recht auf Widerstand für alle Deutschen kodifiziert haben "gegen jeden, der es unternimmt, diese [GG] Ordnung zu beseitigen"!
"Europäischer Großwaschtag in Karlsruhe
Vorratsdatenspeicherung: Der schwierige Versuch, aus grundgesetzwidrigem EU-Recht ein verfassungsgemäßes deutsches Gesetz zu machen ...
Dieses umstrittene Gesetz ordnet an, dass alle Spuren des Telekommunikationsverkehrs der gesamten Bevölkerung sechs Monate lang gespeichert werden müssen, abrufbar für staatliche Anfragen - zur Aufklärung und zur Vorbeugung von diversen Delikten, nicht nur von terroristischen; ganz allgemein zur Abwehr von Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit; oder schlichtweg dafür, dass sich die Geheimdienste aus irgendeinem Grund, den sie niemandem sagen müssen, dafür interessieren. Gespeichert wird, wer mit wem telefoniert, wer an wen eine E-Mail oder eine SMS verschickt, wer welche Seiten im Internet aufruft.
Eigentlich ist ziemlich klar, dass das Gesetz verfassungswidrig ist; dazu bräuchte es gar keine spektakuläre Verhandlung. Noch nie hat es so viele Beschwerdeführer gegen ein Gesetz gegeben, es sind mehr als fünfunddreißigtausend.
Die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes liegt auf der Hand, weil es gegen die gesamte Linie der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts seit 1983 verstößt: Damals, im berühmten Volkszählungsurteil, hatte Karlsruhe erklärt, das Grundgesetz schütze den Bürger "gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten". Das wandte sich gegen eine Gesellschaftsordnung, "in der die Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß".
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Im Urteil von 2007 über den Zugriff der Sicherheitsbehörden auf die sogenannten Kontostammdaten (den die Richter erlaubten), steht der Satz: Eine "Sammlung der dem Grundrechtsschutz unterliegenden Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken" sei "mit dem Grundgesetz nicht vereinbar". Warum wird dann so lange verhandelt?
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Warum das alles? Eigentlich ist doch ziemlich klar: Der Staat des Grundgesetzes darf nicht schnüffeln. In diesem Satz steckt das Problem. Das Gesetz, dessen Verfassungswidrigkeit so augenscheinlich ist, geht nämlich nicht von Berlin, vom deutschen Gesetzgeber aus, sondern von Brüssel. Es handelt sich um die Umsetzung einer EU-Richtlinie.
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Vor allem daher rührt die Spannung, die im Gerichtssaal liegen wird. Wenn das Verfassungsgericht könnte, wie es wollte , würde es das Gesetz samt Brüsseler Richtlinie einfach zerreißen - aber da sind ihm die Hände gebunden.
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Der Erste Senat ... könnte sich von der Lissabon-Entscheidung des Zweiten Senats ermutigt fühlen. Er könnte also der EU vorhalten, sie habe mit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung die Grenzen ihrer Kompetenzen überschritten. ... Nimmt sich der Erste Senat also wirklich heraus, ... nachzuprüfen, ob die EU bei der Vorratsdatenspeicherung ihre Kompetenzen überschritten hat? Dafür gibt es gute Argumente.
Aber das wäre ein Eklat, der ganz Europa aufschrecken würde. Das Bundesverfassungsgericht würde ja nicht nur dem Europäischen Gerichtshof, sondern der ganzen EU den Fehdehandschuh hinwerfen.
Das wird man nicht wagen. Was dann? Das Gericht wird weder klein beigeben noch den ganz großen Konflikt wagen. Studiert man die sehr detaillierte Gliederung der mündlichen Verhandlung, dann fällt auf, dass beim Europarecht nicht allzu lange verweilt wird. Die Richter werden die Geschichte nicht den Kollegen im Europäischen Gerichtshof vorlegen. Sie werden so viel und so detailliert entscheiden, dass sie damit gerade noch am Konflikt mit der EU vorbeikommen. Sie werden das Vorratsdatenspeicherungsgesetz nicht zu Konfetti verarbeiten, sondern es umschreiben, es leidlich grundgesetzkonform machen.
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Das Bundesverfassungsgericht wird versuchen, aus einer eigentlich grundgesetzwidrigen EU-Richtlinie ein verfassungsgemäßes deutsches Gesetz zu machen. Die Verfassungsrichter waschen das EU-Recht sauber."
=> "Sauber gewaschene Gesetze". "Leidlich grundgesetzkonform". An Realpolitiker haben wir uns ja schon im Kalten Krieg gewöhnen können - und erst recht in den "prinzipienfreien" Parteien des 21. Jahrhunderts. An Realjournalisten seit vielen Jahren ebenfalls. Aber dass nun sogar die immer apodiktisch und exakt dem Recht verpflichteten Richter zu "Realrichtern" werden und damit vor der 4. Gewalt im Staate auch noch durchkommen können: DAS ist neu in diesem Staat. Wie so vieles in Zeiten des Rechtsrelativismus - besonders seit September 2001. Oder eben in Zeiten der fehlenden Werte-Maßstäbe - besonders seit der Aufhebung der Goldbindung der Währungen 1971 ...
=> Warten wir die morgige Verhandlung und später das VDS-Urteil ab. Wenn Prantl mit seiner fatalistisch-resignativen Prognose recht bekommt, werden die Bürger dieses Landes sowohl an der Front des Datenschutzes als auch an der Souveränitätsfront zwei tragische Niederlagen erleiden.
=> Das BuVerfG wird dann kein "Volksgerichtshof" mehr sein. Oder doch eben dies...?